Ich sitze hier oben, auf dem Gipfel des ersten Munro. Alleine – das war eigentlich nicht geplant. Doch manchmal spielt das Schicksal einem einen Streich und durchkreuzt die besten Pläne. Die Reiseplanung begann vor über einem Jahr. Mein langjähriger Reisepartner und ich waren 2003 mit dem Interrail in Schottland unterwegs. Es war unsere erste gemeinsame Reise, und es folgten viele weitere.
Vor etwa zwei Jahren beschlossen wir, die Reise 20 Jahre später zu wiederholen, und begannen mit den Planungen. Nach und nach konkretisierte sich unsere Idee, und im Mai 2023 sollte es losgehen. Doch Ende April wurde mein Freund mit einem medizinischen Problem ins Krankenhaus eingeliefert. Es sieht nicht danach aus, dass er in zwei Wochen mitreisen kann. Meine Familie kann leider auch nicht dabei sein, da gerade die Eingewöhnung meines Kindes in die KITA stattfindet. So kommt es, dass ich Anfang Mai alleine nach Schottland reise – eine Erfahrung, die ich bisher selten oder nie gemacht habe.
Die beiden Rucksäcke sind schwer und vollgepackt. Sie enthalten alles Notwendige wie ein Zelt, einen Schlafsack und Fotoausrüstung für die nächsten zwei Wochen in den Highlands. Auch die Trockennahrung habe ich aus der Schweiz mitgenommen, obwohl sie ursprünglich in Großbritannien hergestellt wurde. Paradoxerweise ist es seit dem Brexit unsicherer geworden, welche Waren im Norden der Insel erhältlich sind.
Am Abend komme ich am Flughafen Edinburgh an. Aus Vorfreude (oder Trauer) habe ich das Wetter nicht überprüft. Doch ich laufe im strömenden Regen zum Hotel. Jetzt erstmal duschen und das Wetter checken. Als ich die Wetterdaten für die nächsten Tage überprüfe, brauche ich fast moralische Unterstützung. 14 Tage ohne einen sonnigen Tag – verdammt! Aber ich raffe mich wieder auf und gehe nach dem Abendessen früh schlafen.
Ich bin jetzt fest entschlossen und fahre zuerst in die Region Assynt im Nordwesten der Highlands. Die fünfstündige Autofahrt im Linksverkehr ist das, worauf ich mich am meisten freue – Entschuldigung für die Ironie… Also stehe ich etwas früher am Autoverleih, werde aber abgewiesen. Mein Auto kann ich erst genau um 10:00 Uhr abholen, das gibt das System vor – na gut, dann warte ich eben auf bessere Zeiten. Aber ich bekomme ein Upgrade und kann den hybriden Toyota pünktlich um 10:00 Uhr in Empfang nehmen. Also auf in den Linksverkehr. Die 60 mph oder 96 km/h außerhalb geschlossener Ortschaften sind ziemlich heftig, besonders wenn gedrängelt, gehupt und gefährlich überholt wird. Für viele ist knapp 100 hier zu langsam, obwohl die Straßen in schlechtem Zustand und ziemlich schmal sind. Ich bin erleichtert, als ich nach zwei knappen Beinahe-Zusammenstößen mit einem überholenden Auto endlich in Ullapool ankomme und das Ziel in greifbarer Nähe ist.
Heute starte ich mit einem einfachen Hügel, dem Stac Pollaidh auf der Halbinsel Coigach. Es ist ein markanter Felsen, der als Graham klassifiziert ist – also kein Munro? Nein, er ist kein Munro. Ein Munro ist ein schottischer Berg, der höher als 3000 Fuss (914 Meter) ist und einen gewissen Grad an Eigenständigkeit aufweist. In Schottland gibt es 282 Munros. Das „Munro-Bagging“ (das Sammeln von Munros) ist ein beliebter Volkssport in Schottland, bei dem man versucht, so viele Munros wie möglich zu besteigen. Ich schliesse mich dem Trend an und möchte einige der Munros in der Region erklimmen.
Nun beginnt mein Abenteuer in den schottischen Highlands.
Stac Pollaidh
Nach einer langen Anreise, bei der ich im Autositz eingeklemmt war, fühlt sich mein voll gepackter Rucksack schwer an. Zum Glück steht heute nur eine kurze Strecke zum Stac Pollaidh an, einem markanten und zerklüfteten Berg. Zu meiner Überraschung führt ein gut ausgebauter Weg zum östlichen Gipfel. Ich schlage mein Nachtlager auf einer Anhöhe vor dem Gipfel auf. Von fern beobachten mich zwei Hirsche bei meinem Tun.
Nun geht es weiter zum Westgipfel. Ich steige über ein Geröllfeld in einem Couloir auf. Der lose Stein ist mit Sand bedeckt, der Berg zerfällt förmlich. Der prägende Stein in dieser Region im Nordwesten von Schottland ist der Torridonian Sandstein. Er hat eine rotbraune Farbe und ist bei Nässe absolut nicht rutschig. Dieser Sandstein ist das älteste Sedimentgestein in dieser Gegend und mehrere hundert Millionen Jahre alt!
Nach einem schweisstreibenden Aufstieg erreiche ich den Gipfel und bemerke, dass ich nicht der einzige Besucher am späten Abend bin. Kurze Zeit später stellen sich mir Ben und Nina vor. Benjamin Barendrecht ist Fotograf und lebt mit Nina in Glencoe (www.mountainlandscape.uk). Die Zeit vergeht wie im Flug, aber die Wolken im Westen verdecken früh die Sonne, also machen wir uns kurz nach Sonnenuntergang auf den Rückweg. Diesmal nehmen wir einen schmalen Pfad durch die Steintürme, ab und zu trennen uns nur wenige Zentimeter vor dem Abgrund. Ich verabschiede mich von den beiden und gehe zu meinem Schlafplatz. Noch etwas kochen und dann bald wieder aufstehen. Zu dieser Jahreszeit geht die Sonne bereits um fünf Uhr auf.
In der Nacht rieselt der Regen leicht auf mein Zelt. Das Wetter ist um fünf Uhr immer noch schlecht, also lege ich mich noch einmal hin und warte, bis der Wind das Zelt trocknet. Nach einem kurzen Abstieg erreiche ich mein Auto und mache mich bereit, weiterzufahren. Auf geht’s zum Sgùrr an Fhìdhleir.
(Foto Nina&Ben)
Sgùrr an Fhìdhleir
Nach knapp einer Stunde Fahrt und dem Entfernen von zwei Zecken stehe ich auf dem Parkplatz. Der Himmel ist immer noch wolkenverhangen und das heutige Ziel ist nicht sichtbar. Dennoch bereite ich mein Gepäck vor und mache mich auf den Weg. Ein schmaler Pfad führt steil nach oben vom Bauernhof am Ende der Straße. Nach und nach wird der Pfad kleiner, bis er schließlich verschwindet. Einige hundert Meter unterhalb des Gipfels biege ich nach rechts über den Hügelkamm ab. In einer Senke zwischen zwei Gipfeln schlage ich mein Nachtlager für die nächsten zwei Nächte auf. Von hier aus kann ich gelegentlich über die Klippe zum Seelein hinunterschauen, doch dann verschwindet die Szenerie wieder im aufziehenden Nebel.
Trotz des schlechten Wetters mache ich mich kurz vor Sonnenuntergang auf den Weg zum Gipfel Sgùrr an Fhìdhleir, der mit 705 Metern kein Munro ist. Der Wind bläst heftig über den Hügelkamm und gelegentlich regnet es leicht, die Tropfen haften hartnäckig an mir. Ich ziehe meine Regenkleidung an, um mich vor Nässe und Wind zu schützen. Plötzlich senken sich die unteren Wolken und lassen Licht hindurchscheinen. Was für ein Anblick, endlich kann ich einige umliegende Berge erkennen. Doch wenige Sekunden später ist das Schauspiel vorbei und ich warte vergeblich auf eine erneute Aufklärung. So kehre ich für heute zum Zelt zurück.
Der morgendliche Blick aus dem Zelt ist trostlos, dichter Nebel umhüllt das Zelt. Also schlafe ich noch etwas weiter. Erst als es fast Mittag ist, erwärmt sich das Zelt und treibt mich nach draussen. Die Sonne hat sich ihren Platz erkämpft und scheint gelegentlich durch die Wolken. Mit weniger Gepäck lässt sich die weglose Berglandschaft gut erkunden.
Nach einer langen Wanderung kehre ich zum Zelt zurück, packe meine Kameraausrüstung und mache mich für einen erneuten Versuch auf den Gipfel Sgùrr an Fhìdhleir. Heute scheint mir das Wetter günstig gesinnt zu sein. Das Licht dringt durch die Wolken und erhellt die Berglandschaft. Ab und zu ziehen Regenwolken vorbei und zaubern einen Regenbogen. Je näher der Sonnenuntergang rückt, desto mehr lockern sich die Wolken auf. Ich darf hier wunderschöne Szenen erleben. Müde und glücklich gehe ich schlafen. Zuerst entferne ich noch eine Zecke und dann ist gut für heute.
Mein Schlaf ist unruhig, was wird der morgige Tag bringen? Doch als ich endlich einschlafe, klingelt schon wieder der Wecker. Ein Blick aus dem Zelt und ich springe auf. Im Nordosten stauen sich die Wolken, nur wenige Lücken sind zu erkennen. Ich baue den Campingkocher auf und koche mir erst einmal einen Kaffee mit dem Bialetti-Kocher. Schon sind die Farben der Morgenröte sichtbar. Das Licht wird nach und nach intensiver, bis die Sonne zwischen einer der Lücken hervorschaut. Die gesamte Umgebung und die Wolken werden angestrahlt – was für ein Erlebnis. Es ist noch früh, also gehe ich vor dem Abstieg noch einmal schlafen. Allerdings ärgere ich mich, als ein Regenschauer mein Zelt durchfeuchtet und ich es erneut trocknen muss. Das ist nicht das einzige Ereignis. Auf dem Rückweg nieselt es. Als ich beim Auto ankomme, wird der Regen stärker. Ich entscheide mich, heute weiter in den Norden zu fahren, da für den Abend starker Regen angekündigt ist und ich immer noch keinen Munro bestiegen habe…
Achmelvich & Stoer
Bevor der Starkregen am Abend einsetzt, fahre ich nordwärts entlang der Küste nach Stoer. Ein Zwischenstopp an den wunderschönen Buchten von Achmelvich lädt zum Träumen ein. Die Strände erinnern an die Karibik – weisser Sand und azurblaues Wasser. Ich schlendere zum hinteren Strand und geniesse die Ruhe ganz für mich allein. Ich lege mich auf den natürlich gemähten Rasen und lasse meine Seele baumeln. Erst als die Sonne sich hinter den Wolken versteckt und es langsam kühler wird, mache ich mich auf den weiteren Weg. Für heute Nacht habe ich eine Kabine in Stoer gebucht. So kann ich mich ausruhen, das schlechte Wetter vorbeiziehen lassen und das nasse Zelt vom heutigen Morgen trocknen lassen.
Nach einem kurzen Besuch beim Leuchtturm und den Klippen von Stoer, einschliesslich dem „Old Man of Stoer“, fahre ich zur Kabine. Das rustikale Gebäude trägt den Namen „Holly“ und der Vermieter Wallace erwartet mich bereits. Er ist ein waschechter Schotte, der trotz des schlechten Wetters draussen in kurzen Hosen herumläuft.
Nach einem reichhaltigen Abendessen und einer erfrischenden Dusche gehe ich ins Bett. Erst mit den ersten Sonnenstrahlen erwache ich und mache mich auf den weiteren Weg. Heute möchte ich meinen ersten Munro besteigen.
Cùl Mòr
Nun stehe ich hier am Start des Trails auf den Cùl Mòr – mit 849 m immer noch kein Munro, muss ich gerade feststellen. Irgendwie will es mit den Munros nicht so recht klappen. Aber trotzdem ist das Wetter super, also wandere ich mit Freude den langen Weg zum Berg hinauf. Der Trail führt abwechselnd durch sumpfiges und steiniges Terrain. Für den letzten Abschnitt wähle ich eine alternative Route durch ein überschaubares Couloir. Auf dem nassen Untergrund ist es rutschig und ich verliere den Halt, trete ins Leere. Vor einer Steingruppe bedeckt das Moos ein Loch, in das ich mit einem Fuss voll hineintrete. Mein Schienbein ist aufgekratzt und blutet. Ich beisse die Zähne zusammen und setze meinen Aufstieg fort. Es geht steil bergauf. Endlich erreiche ich den Gipfel, und schon ziehen sich die Wolken wieder zusammen. Ich mache es mir im Zelt gemütlich. Es wird Abend und der dichte Nebel bleibt. Gelegentlich sehe ich die rötliche Färbung des Abendhimmels, aber die Inversionslage drückt wahrscheinlich die unteren Wolken über die Bergkanten. Also gehe ich direkt schlafen und hoffe auf einen schönen Morgen.
Um vier Uhr morgens öffne ich das Zelt und draussen ist alles grau. Der Nebel ist immer noch da und versperrt die Sicht. Ich schliesse das Zelt und krieche zurück in meinen warmen Schlafsack. Irgendwie lässt es mich nicht los und alle fünf Minuten schaue ich erneut hinaus. Nichts – 5 Minuten – Wieder nichts. Zurück in den Schlafsack. Wenige Minuten vor dem Sonnenaufgang schaue ich noch einmal hinaus. Mein Blick richtet sich zum Gipfel und ich sehe, dass sich dort eine Nebelinsel gebildet hat. Das Morgenlicht scheint herrlich hindurch. Ich ziehe mir schnell die Schuhe an, ohne sie zu binden, und sprinte die paar hundert Meter zum Gipfel hinauf. Meine Gelenke und Muskeln werden aus dem Tiefschlaf gerissen, meine Lunge beginnt zu brennen. Völlig ausser Atem erreiche ich die Nebelinsel. Gelegentlich steigt der Nebel und hüllt die Szene in ein farbiges, bizarres Licht, dann verschwindet er wieder und gibt mir den Blick in die Ferne frei. Die Kamera ist innerhalb weniger Minuten wegen der feuchten Luft mit Tau bedeckt. Ich putze die Linse nach jedem Bild. Dann taucht auch schon die Sonne am Horizont auf und der Nebel zieht über die Bergflanke hinweg. Wow, was für eine atemberaubende Stimmung, die ich fast verschlafen hätte. Langsam merke ich, dass ich noch nichts gegessen habe und dass ich müde werde. Nachdem das beste Licht vorbei ist, kehre ich überglücklich zum Zelt zurück. Doch halt, wie finde ich das Zelt im Nebel wieder? Ich laufe im Zickzack den Hang hinunter. Nichts, wieder hinauf, noch einmal hinunter, weiter nach rechts. Mmmh, hier muss es doch sein. Keine zehn Meter von mir entfernt sehe ich eine Silhouette – da ist es. Ich hätte das Zelt fast nicht wiedergefunden. Ich mache mir Frühstück und Kaffee. Dann geht es wieder zurück ins Bett, um Schlaf nachzuholen. Als das Zelt sich von der Sonne erwärmt, ist auch der Tau schnell verschwunden, und ich mache mich auf den Rückweg. Die ersten Wanderer sind bereits unterwegs, mit einigen halte ich einen kurzen Schwatz. Am Auto angekommen bin ich glücklich über den Morgen, nur die Schramme vom Vortag leuchtet in allen Farben. Sie ist vermutlich nicht sehr schlimm, aber schmerzt höllisch aufgrund der Prellung.
Ein kurzer Zwischenstopp im schmucken Dörfchen Ullapool, ein wenig schlendern und natürlich die heimischen Fish & Chips probieren. Ich entdecke auch einen kleinen Outdoor-Laden und stocke meine Trockennahrung etwas auf, während ich einen frischen Cafe Latte geniesse. Nun ist es an der Zeit, weiterzugehen – die nächste Herausforderung wartet.
Das ist das Ende des ersten Teils. Der zweite Teil folgt bald, hier noch die letzten Bilder dazu:
Leave a reply
Welche Stimmungen auf den Fotos! Scotland – one of my secret loves!
Gruess von old gangsta Michu
Merci Michu. Ein Land zum Verlieben und verregnet zu werden 😛
Was für wunderschöne Impressionen, allen voran vom Cul Mor! Da hat es sich wirklich gelohnt, die Zähne zusammen zu beissen! Auf dem Stac Pollaid stand ich auch schon – allerdings ohne Sicht 😀 Danke also auch für diese schönen Fotos (sogar inklusive Schneehuhn, wow!). Bin auf die Fortsetzung gespannt!
Danke Mel, das Schneehuhn hatte keine Scheu 😊 Das Abenteuer auf dem Cul Mor war sehr eindrucksvoll. Teil 2 kommt bald 👋
WOW, einfach WOW 🙂
Danke Retu 🙌🏻